
Eröffnung: Freitag, 19.8.2022, 19 Uhr
In seiner ersten institutionellen Einzelausstellung Nervous System im Kölnischen Kunstverein setzt José Montealegre seine 2020 begonnene Werkserie Páginas fort. Ausgangspunkt für diese Skulpturen ist ein umfangreiches botanisches Archiv mit Pflanzenabbildungen, das im Zuge der spanischen Kolonisierung Mexikos entstand und als Nova Plantarum Animalium et Mineralium Mexicanorum (1628) veröffentlicht wurde. Es umfasst Hunderte von indigenen Pflanzen, die von den Kolonisatoren katalogisiert und neu systematisiert wurden. Detailreich übersetzt Montealegre diese botanischen Illustrationen in Kupferskulpturen und präsentiert sie im zweiten Stock des Kunstvereins. In seiner künstlerischen Praxis, die auch das Schreiben umfasst, entwirft der Künstler Erzählungen, die die Grenze zwischen Herkunft und (Fehl-)Übersetzung verwischen. Entgegen dem von Kolonialmächten geprägten Wissen lässt Montealegre marginalisierte Perspektiven auftauchen und fordert so kanonische Geschichte(n) heraus.
Der Ausstellung folgt die erste Publikation von José Montealegre.
Methodologien I
Eins. Wie ein Protagonist einer Comic-Zeichnung, der in die rotierende Schnauze einer Gänsehaut-Stadt aus Beton wie zum Beispiel New York eintaucht, schnappt meine messingbeschlagene, lederne Aktentasche auf und alle meine Papiere fliegen weg. Jetzt bin ich spät dran. Jetzt bin ich arm. Jetzt habe ich Träume. Jetzt fliegen sie weg.
Zwei. Es ist furchtbar offensichtlich, dass jedes Gespräch über die Methodologien der Kunst mit dem Leben beginnt und sicher auch endet. Beginnt, weil es die Quelle ist, die den Brunnen anzapft. Endet, weil aufgeblähte Goldfische die Beute der Falken sind.
Drei. Dokumentenwirbelsturm. Scherenschnitt-Stadt. Der Nerv, die Nerven, nervöse Nerven aus Stahl. Der Tornado aus Seiten wirbelt Ordnung und Logik durcheinander und versetzt damit das Geschäftsgespräch in einen unverständlichen Schwebezustand, wo die Bürokratie keinen Halt findet und die Rankpflanze keine Wurzeln schlagen kann. Vielleicht hast du eine Nervenzelle, die fehlzündet.
Vier. Daraufhin wird mir klar, dass das, was gesucht wird, nicht zufällig sein kann. Eine Person, die das Loch in ihrer Tasche nicht stopft, nennt man Wohltäter:in.
Fünf. Es ist der sich drehende Papierzyklon, der mein Leben so zerstört hat, der Ort der Selbstauflösung der Welt. Wo das Unsichtbare nicht nur gesehen wird, sondern sich verwandelt. Die schwebenden Papiere werden zu Kugeln zerknüllt. Sie enthalten, verbergen und machen Informationen unbrauchbar. Es ist wie der Blick in den Brunnen und den goldenen Meniskus sehen, der das Licht bricht, die gegossene und verwelkende Blüte, die sanft auf die Wasseroberfläche fällt und vom Wind umhergeweht wird, der Goldfisch, der unbeholfen, wenn nicht gar anmutig schwimmt, und die Kralle, die ihre Ruhe bricht und sich ins Wasser stürzt und den Goldfisch in eine andere ekstatische Welt trägt.
Sechs. Im Mai 2020 lud ich eine digitale Kopie der Nova Plantarum Animalium et Mineralium Mexicanorum (1628) von Biodiversitylibrary.org auf einen USB-Stick herunter. Dann brachte ich diesen USB-Stick zu einer Druckerei für Studierende. Dort druckte ich sie in Schwarzweiß auf Recyclingpapier aus. Mit ledergebundenem Einband und allem Drum und Dran. Der 1.104 Seiten starke Dokumentenstapel enthält Hunderte von Zeichnungen von Pflanzen und Tieren aus dem heutigen Mexiko und Mittelamerika. Jede Zeichnung wird von einem Namen auf Nahuatl begleitet, der von den Imperien verstreut wurde, und einem lateinischen Namen, der von der modernen Botanik neu interpretiert wurde. Seit ich diese Version der ‚Nova Plantarum‘ gedruckt habe, blättere ich das Buch fast jeden Tag durch. Ich sehe mir die Pflanzen an und erkenne sie manchmal sofort. Manchmal dauert es aber auch Monate, bis mir klar wird, dass ich sie schon einmal gesehen habe, doch die meisten bleiben mir unbekannt. Wenn ich ihren Namen google, finde ich nichts. Nur durch diese Zeichnungen vertraut, sehe ich vage Möglichkeiten in der Landschaft. Wenn mir danach ist und wenn ich merke, dass ich sie bildhauerisch kenne, mache ich eine Skulptur der Zeichnung. Bis jetzt habe ich etwa achtzig Pflanzenskulpturen gemacht. Es sind noch Hunderte übrig. Jedes Mal, wenn ich die schwarz-weiße Druckausgabe dieses Buches durchblättere, schaffe ich darin eine neue Ordnung. Der Ledereinband befindet sich jetzt in der Mitte des Buches übersät von Kritzeleien und Notizen. Die Seitenabfolge ist unlogisch und irrelevant geworden. Die Seitenzahlen überspringen Hunderte. Ich habe Seiten verloren. Ich habe sie zerknittert. Ich habe Flecken hinterlassen.
Text: José Montealegre (Übersetzung: Kathrin Heinrich)
Methodologien II
Eins. Betrachten
Erster Blick an die weiße Wand, zweiter Blick auf den gefliesten Boden. Sich umschauen. Hinunterschauen. Geh auf die Knie. Geh näher heran. Entdecke. Wiederhole.
Zwei. Beanspruchen
Im Jahr 1517, während der spanischen Kolonisierung Amerikas, wurde der Naturforscher und Arzt Francisco Hernández de Toledo auf die erste wissenschaftliche und botanische Expedition geschickt. Das Ergebnis der siebenjährigen Expedition war ein umfangreiches botanisches Archiv in Form eines illustrierten Manuskripts mit schematischen Zeichnungen, die bei Nahua-Malern in Auftrag gegeben worden waren. In Folge wurde es im Kloster Escorial aufbewahrt, vom italienischen Mediziner Nardo Recchi umstrukturiert, ging bei einem Brand teilweise verloren und wurde schließlich 100 Jahre später unter dem Titel Nova Plantarum, Animalium, et Mineralium Mexicanorum historia im Jahr 1628 veröffentlicht.
Drei. Wissen
Sehen, Benennen, Wissen. Die Pflanzennamen im Buch sind sowohl in Nahuatl als auch in Latein angegeben. Da jedoch die Bezüge durch Aneignung, Erwerb und Übersetzung teilweise verloren gegangen sind, ist der Versuch, eine Entsprechung in der heutigen Botanik zu finden, nicht immer erfolgreich. Als wir durch die Kölner Innenstadt gehen, sehe ich eine auffallend dominante Pflanze, die den Bordstein durchbrochen hat. „Ist dir nicht aufgefallen, dass Pflastersteine in deutschen Städten immer bogenförmig verlegt sind?“, fragt er. Denken durch Handwerk.
Vier. Erzählen
Im Jahr 2013 besuchte ich José Montealegre zum ersten Mal in seinem Atelier. Er war gerade von Managua nach Frankfurt am Main gezogen, um sein Studium an der Städelschule in der Klasse von Willem de Rooij zu beginnen. Ich erinnere mich, wie ich Plattformen aus Kacheln auf niedrigen Sockeln auf dem Boden, auf denen Miniatur-Dschungelwelten aus Ton zu sehen waren, betrachtete, oder besser gesagt, beobachtete, an Reliefs von winzigen Skeletten an der Wand neben gerahmten, historisch anmutenden Buchseiten. Es war eine Überraschung, als ich herausfand, dass diese Dokumente fiktiv waren: Digitaldrucke auf leeren Seiten, die aus gebrauchten Büchern herausgerissen worden waren. Überschreiben von Geschichten. Geschichte neu schreiben. Die Erzählung zurückgewinnen.
Fünf. Ausweiten
Montealegres Werke haben das Potenzial, sich über ihre Ränder hinaus auszudehnen. Wie vier rechteckige Ausschnitte einer größeren Umgebung scheinen sie zu wachsen, sich zu entwickeln, sich zu reproduzieren. Im Außenraum reflektieren die spiegelnden Oberflächen der Plastikbehälter, die in Honduras zum Auffangen von Regenwasser und zur Handwäsche von Kleidung verwendet werden, ihre Umgebung. In den Buntglas-Quadraten klingen die Einflüsse der katholischen Ikonographie sowie des Kunsthandwerks und ihre alles vereinnahmende europäische Erzählung nach. Die Renaissance in Europa brachte nicht nur das Konzept der Perspektive in der Kunst mit sich, sondern auch die koloniale Expansion.
Sechs. Zusammenbrechen
Was Kupfer und Nerven gemeinsam haben, ist, dass beide elektrische Überträger sind. „Vertrau mir nicht, ich sage nicht die Wahrheit“, sagt er. Zittern und Beben. Wissen und Macht neu strukturieren. Rückkehr der Handlungsfähigkeit.
Text: Miriam Bettin (Übersetzung: Kathrin Heinrich)
Kuratorin: Miriam Bettin
José Montealegre(*1992 in Tegucigalpa, Honduras) lebt und arbeitet in Berlin. Er studierte Philosophie und Literatur an der Universidad Centroamericana de Managua, Nicaragua, und bei Willem de Rooij an der Städelschule in Frankfurt am Main. Seine Arbeiten wurden in Einzelausstellungen in der Klosterruine in Berlin, bei Mountains in Berlin (beide 2021), Convent Art Space in Gent (2019) und in Gruppenausstellungen u.a. im Lantz’scher Skulpturenpark Lohausen in Düsseldorf (2021), Städelmuseum in Frankfurt am Main, bei Natalia Hug in Köln (beide 2019), Futura Gallery in Prag, Gillmeier Rech in Berlin (beide 2018) und in der Kunsthalle Darmstadt (2017, 2014) gezeigt. Parallel zur Einzelausstellung im Kölnischen Kunstverein ist eine von José Montealegre und Rebekka Seubert kuratierte Gruppenausstellung im Dortmunder Kunstverein zu sehen (bis 30.10.2022).


























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